Sofi-Oksanens-Strawberry-Field-am-Finnischen-Nationaltheater

Uraufführung in Helsinki
Bedrohung durch den Homo Putinicus
von Eberhard Spreng

Erst stellte die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen ihren Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ vor: Eine umfassende Betrachtung der Gewalt gegen Frauen und der Ablehnung westlicher Freiheitswerte in der russischen Kultur. Nun legt sie am Kansallisteatteri, dem finnischen Nationaltheater in Helsinki nach: Ihr neues Stück heißt „Mansikkapaikka“, englisch: „Strawberry Field“. Es geht unter anderem um die Zwangstherapie eines finnischen Homosexuellen.

Deutschlandfunk – Kultur Heute, 27.03.2023 → Beitrag hören

Foto: Kansallisteatteri

Ville wird seit zwei Monaten in einer Moskauer Psychiatrie festgehalten. Er ist der Sohn eines finnischen Erdbeerbauern, den seine Mutter und seine Großmutter unter einem falschen Vorwand heimlich in die russische Metropole geschickt haben. Der Grund: Die Beiden hoffen, der dortige Psychiater werde aus dem jungen Homosexuellen einen Mann mit heterosexuellen Bedürfnissen machen. Das Stück der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen spielt im März 2022, zu Beginn des russischen Angriffskrieges. Die Autorin erläutert:

„Es geht um die Konversionstherapie und Russlands staatlich geleitete Homophobie. Sexuelle Minderheiten sind dort ein Symbol für westliche Werte. Russlands Verteidigungsministerium veröffentlichte vor kurzem ein illustriertes Kinderbüchlein, das russische Soldaten als mutig und ukrainische als Homosexuelle darstellt. Das illustriert die russischen Vorstellungswelten.“

Der Fall Ville wird in Oksanens Stück zum Politikum. Der Psychiater wittert eine Chance: Er hofft auf ein alleiniges Patent für sein Verfahren. Das Stück ist das Sittenbild einer korrupten russischen Gesellschaft, in der sich erzkonservative Werte mit Geschäftemacherei verknüpfen. Die Autorin spricht von einer Kultur systematischer Manipulationen.

„Die Russen verdrehen die Worte. Das verwirrt die westlichen Länder. Wenn sie von Nazis oder Faschisten reden, dann meinen sie einfach nur Menschen, die mit der russischen Politik nicht einverstanden sind, nicht von ihnen beherrscht werden und ihre Souveränität behalten wollen.“

Viele von Oksanens Romanen spielen in Estland, das Finnland aufgrund historischer Parallelen eng verbunden ist. Ähnlich wie die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas jüngst bei ihrem Besuch in Deutschland formuliert Sofi Oksanen deutliche Warnungen an westliche Demokratien.

„Wir kennen Russlands Besatzungsagenda aus einer langen Geschichte. Seit den Massendeportationen in baltischen Ländern in den 1940er Jahren. Es ist immer dasselbe: Erst liquidieren oder deportieren die Russen bestimmte ethnische Bevölkerungsgruppen und dann werden diese Menschen durch Russen ausgetauscht.“

Nur gut zwei Stunden mit der Fähre trennen Helsinki von Tallinn, der Hauptstadt Estlands. In dem baltischen Land leben infolge der sowjetischen Bevölkerungspolitik ein Viertel Russen . Dort zeigt das Draamateater „Linnade Pöletamine“, „Brennende Städte“ der estnischen Schriftstellerin Kai Aareleid. Auch sie erzählt Geschichte in der Form eines Familiendramas, aus der Sicht einer Schülerin in der von dem zweiten Weltkrieg und von Sowjetrussland gezeichneten estnischen Stadt Tartu der 1950er und 60er Jahre. Die Autorin erkennt historische Muster:

„Die Spannungen damals unterscheiden sich nicht so sehr von den aktuellen. Heute ist die Frage, welche Wahrheit vorherrscht? In welchem Informationshorizont lebt man? Viele in unserer russischsprachigen Bevölkerung leben im Informationshorizont des Kremls und nicht in dem des Westens. Friedliche Diskussionen sind deshalb nicht mehr möglich.“

„Капитан, капитан, улыбнитесь, Ведь улыбка – это флаг корабля…“

Zwei Jugendliche trällern ein russisches Kinderlied.. Während die Elterngeneration unter der bitteren Vorgeschichte und der sowjetestnischen Wirklichkeit leidet, hält die Autorin in der Begegnung der estnischen Schülerin und ihrem russischen Freund an der grundsätzlichen Chance der Verständigung fest.

„Brennende Städte“ der estnischen Autorin Kai Aareleid

Auch wenn neue Bedrohungen aus Putins Russland kommen, die estnische Gesellschaft ist noch mit der Verarbeitung der sowjetestnischen Vergangenheit beschäftigt. Aareleids „Brennende Städte“ läuft im relativ kleinen Tallin auch noch bei der 71ten. Aufführung vor ausverkauftem Saal. Wie in vielen anderen Theaterstücken tun sich zwischen den Generation ideologische Gräben auf. Die baltische Theaterliteratur legt beispielhaft deren Grenzziehungen offen. Sofi Oksanen über ihr neues Stück:

„Das Stück ist eine Metapher für eine letztlich umfassende Umerziehungsstrategie in Russland. Das Ziel ist dort der Homo Putinicus. Wenn wir vom Krieg in der Ukraine sprechen, dann müssen wir daran denken, dass Russland ihn auch gegen den Westen und dessen Werte führt.“

Wer die künftigen geopolitischen und kulturellen Konflikte realistisch einschätzen will, dem helfen die Reflexionen der Frauen aus der nordöstliche Randlage Europas.