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„Die Ästhetik des Widerstandes“ in Straßburg
Erweiterung des Geschichtshorizontes
von Eberhard Spreng

An den über 1000 Seiten langen Roman-Essay „Die Ästhetik des Widerstandes“ wagt man sich selten auf der Bühne. Nach seinen Marx-Exegesen und einem Dostojewski-Zyklus inszeniert Silvain Creuzevault dies nun als Abschlussarbeit der „Groupe 47“ an der berühmten Theaterschule des Théâtre National de Strasbourg: Die faschistische Epoche aus der Sicht eines Arbeiters im Widerstand wird zu einem gewaltigen, fünfstündigen Geschichtsfresko. „L’Esthétique de la Résistance“ beschließt die letzte Spielzeit des Intendanten Stanislas Nordey.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 24.05.2023 → Beitrag hören

Foto: Jean-Louis Fernandez

„Und weil der Mensch ein Mensch ist…“

Stimmungsmache im Mehrzwecksaal des Théâtre National de Strasbourg. Das Publikum klatscht mit beim „Einheitsfrontlied“ von Eisler und Brecht. Am Beginn einer langen Reise in die Finsternis des europäischen Faschismus steht der strahlende Optimismus eines großen jungen Ensembles. Einige postieren sich dann vor die Abbildung des Frieses, mit dem auch Peter Weiss’ Romanessay „Die Ästhetik des Widerstandes“ begann. Junge Genossen im Gespräch über Kunst: Was bedeuten Posen, Gesten, Körper für einen Arbeiter, der sein Bewusstsein an der Bildbeschreibung der Kampfszene auf diesem Jahrtausende alten Pergamonaltarrelief schärfen will? Ja, und was kann der junge Abschlussjahrgang der dem Nationaltheater angeschlossenen Schauspielschule aus dieser Geschichte für ihre Zukunft lernen? Silvain Crauzevaults großes Geschichtsfresko eines Europa unter dem Nazi-Stiefel ist ein pädagogisches Projekt. Immer wieder wird die Frage debattiert, welche Kunst die Schrecken von historischer Unterdrückung für die Nachwelt gültig einfängt? Goyas „Erschießung der Aufständischen“ oder Picassos Antikriegsgemälde „Guernica“? Recht treu an der Romanvorlage reist die Szenenfolge um den namenlosen Erzähler auch ins Spanien des Bürgerkrieges am Ende der 1930er Jahre.

„Nous trouvons le Camp Républicain fragile et divisé. Semaine après semaine la zone contrôlée par les franquistes ne cesse de s’étendre“…

Auf eine Gaze-Leinwand wird gelegentlich ein Stück Erzähltext projiziert, dann wieder öffnet sich die tiefe Bühne für einzelne Schlüsselszenen des Romans: Erhitzte, von dichtem Zigarettenrauch verhüllte Debatten der Widerstandskämpfer über politische Entwicklungen, die Stalinistischen Säuberungen, denen zumal der Marxist Nikolai Bucharin zum Opfer fiel. Dann wieder rasch skizzierte Bilder eines frivolen Paris, in den es den Romanprotagonisten nach der Niederlage im spanischen Bürgerkrieg verschlägt.

Foto: Jean-Louis Fernandez

Crauzevaults langer, wie der Roman dreiteiliger Abend endet in einem finsteren, mit einem statischen Bild erzählten Untergang. Die Widerstandskämpfer sind enttarnt und werden hingerichtet. Anders als man es erwarten könnte, schlagen weder Bilder der aktuellen französischen Revolte gegen die Rentenpolitik und den autoritären Neoliberalismus Macrons noch auch Kommentare zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine in tagesaktueller Unmittelbarkeit in die Aufführung. Im Gegenteil: Creuzevault öffnet einen klug gebauten und reflektieren Geschichtshorizont, zu dem auch eine mit heiligem Ernst inszenierte Chorszene gehört.

„Священная война“

Ohne die sowjetische Hymne vom „Heiligen Krieg“, ohne die gewaltigen russischen Opfer im Kampf gegen das faschistische Deutschland ist Europa als historischer Raum nicht zu denken. Regisseur und Ensemble erinnern daran mit Ernst, ohne Dogmatismus und ohne Scheuklappen. Diese „Ästhetik des Widerstandes“ ist eine sehr schöne Lektion in Horizonterweiterung durch Geschichtsbetrachtung.

Das Ensemble in Silvains Creuzevaults Literaturadaption ist divers, Menschen nichtweißer Hautfarbe, auch Nachkommen der maghrebinischen Immigration gehören dazu. Die Truppe entspricht damit einem der zentralen Ziele des Intendanten Stanislas Nordey für seine Amtszeit am Théâtre National de Strasbourg. An der Schauspielschule wurde gar positive Diskriminierung praktiziert: Die bevorzugte Aufnahme von Schauspieltalenten mit nichtweißer Hautfarbe an die berühmte, dem Theater angegliederte Ausbildungsstätte. Gilt ähnliches auch fürs Publikum? Nordey sagte zu Beginn seiner Intendanz im Jahre 2016:

„Warum ist es denn immer dieselbe soziale und berufliche Schicht, die das Theater besucht? Warum wagt ein anderer Teil der Bevölkerung nicht, zu kommen? Warum gibt es Menschen, die von der Kulturszene aufgegeben worden sind? Wenn ich Straßburg wieder verlasse, wäre ich froh, wenn die Bewertung meiner Amtszeit sich genau diese Frage vornähme.“

Nun, gelungen ist das vor allem in den kostenlosen Programmen, die das Theater „l’Autre Saison“ nennt. In den letzten Jahren kam mit der „Traversée de l’été“ eine Sommerbespielung hinzu. Im theatralen Hauptprogrammen war ein diverses Publikum weniger sichtbar. Was an den Spielplänen unter Nordeys Intendanz aber immer wieder überzeugte, waren bildmächtige Inszenierungen zeitgenössischer Dramatik.

Filmstar Emmanuel Béart gehört zu den 20, dem Theater assoziierten Künsterinnen und Künstlern, die Nordey seinem Projekt beigesellte. Wie auch der Regisseur Julien Gosselin, die Autorin Marie Ndiaye und Autor und Regisseur Falk Richter, der in Straßburg seine bislang persönlichste Arbeit vorlegte. Sie alle haben Anteil an der Positionierung des Theaters als Vorreiter für eine Gegenwartdramatik, die Politik und Gesellschaft kritisch begleitet und zugleich in den letzen sieben Jahren auch ästhetische Maßstäbe setzte.