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Kafka am Gorki-Theater
Der Tanz im kalten Mythos
von Eberhard Spreng

Weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat, wird der sechzehnjährige Karl Roßmann von seinen Eltern nach Amerika weggeschickt, erlebt kleine Hochs und viele Tiefs. Den frühen, unvollendeten Kafka-Roman bringt Sebastian Baumgarten am Gorki-Theater auf die Bühne.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 15.01.2023 → Beitrag hören

Foto: Ute Langkafel

Am besten wäre Karl Roßmann in New York gar nicht erst an Land gegangen. Noch ist er an Bord, seinen Koffer hat er schon verloren, dann aber einen Heizer kennen gelernt, der von seinem Chef schlecht behandelt wird. Karl setzt sich für ihn ein, investiert sein europäisches Gutmenschentum in einer Kultur des Jederfürsich, um später dann doch im Moloch Amerika irgendwie abhanden zu kommen. Er verliert sich in einer Vielzahl von Begegnungen, findet seinen Weg nicht im Traumland USA. Das Motiv des Verschwindens setzt Regisseur Sebastian Baumgarten programmatisch an den Anfang der Aufführung.

„Wenn ich von einem Menschen spreche,
dann deshalb, weil er schon tot ist
Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb,
weil sie schon nicht mehr ist“

Im Predigt-Ton spricht Falilou Seck die ersten Zeilen aus Jean Baudrillards emblematischem Essay „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“ Es geht um eine Dialektik des menschlichen Denkens, in dem alles Begreifen letztlich in das Verschwinden der realen Welt führt. Das passt natürlich auch zu Amerika, dem Vorreiter einer sehr gegenwärtigen Kultur, in der das Produzieren von Dingen das Vernutzen und Verschwinden der natürlichen Welt zur Folge hat. Und es passt zur Denkwelt des Romanautors, in der das Individuum in der Reibung mit den Situationen und Umständen des Lebens nur scheitern kann.

Der Protagonist – mehr Konzept als Figur

Karl Roßmann ist folglich auf dieser Bühne nicht wirklich eine Figur mit psychologischer Ausformung, sondern ein Konzept, das sich von beliebig vielen Akteurinnen und Akteuren des Ensembles in flottem Wechsel performen lässt. Wobei ihre Sprache flott zwischen direkter Rede und Erzählung wechselt.

– „Ich habe auf so vielen deutschen Schiffen gedient…
– Und er nennt zwanzig Namen hintereinander, und Karl wird ganz wirr
– ‚…belobt worden, war ein Arbeiter nach dem Geschmack meiner Kapitäne.’
– Der Heizer erhebt sich als sie das der Höchstpunkt seines Lebens
– ‚Und hier auf diesem Kasten bin ich nichts.“

Karl und der Heizer und all die anderen Figuren des Romans sind also ein Sprachkollektiv, das aus dem Unterboden aufpoppt, aus der Seitenbühne ins Geschehen stolpert, sich in allen erdenklichen Körperposen ins Bild schiebt um dann ganz schnell wieder zu verschwinden. Mit Slapstick-Zitaten wird an die Körpersprache von Charlie Chaplin erinnert, im Dunkelgrau der Kostüme und im Kalkweiß der Bühnenobjekte ist der Schwarz-Weißfilm vom vergangenen Jahrhundertbeginn angelegt. Und da ist natürlich auch der Drive der pulsenden Metropole New York.

„In Europa lebt die Straße nur vom Zustrom, von historischen Augenblicken, von Revolutionen und Barrikadenkämpfen. Die amerikanische Strasse kennt vielleicht keine geschichtlichen Augenblicke aber sie ist immer in Bewegung, immer vital, kinetisch und kinematographisch wie das Land selbst.“

Ein gigantisches Rad dreht seine Kreise, seiner Aufschrift fehlen ein paar Buchstaben: Aus Goodyear ist God ear geworden; dem riesigen Nike-Sneaker, in den man einsteigen kann wie in ein Sportwagen-Cabriolet, ist die Kreuzinschrift INRI eingeprägt. Rechts türmen sich Bildschirme mit den schwarzweiß Fotos, die ein Fotograf während der Aufführung von den Figuren macht, im Wechsel mit Archivbildern vom Amerika der Vergangenheit und der Heinz Tomaten-Ketchupflasche, die die Popart verewigte. Es sind vor allem die riesigen Artefakte des american way of life, die als Reste der amerikanischen Zivilisation alle Kafka-Menschen überdauern werden.

Aus dem Publikum blickt man auf diese Welt wie auf eine überdrehte Show von Has Beens, die noch nicht begriffen haben, dass ihre Zeit vorbei ist und die hier nur noch, von einem seelenlosen Rhythmus getrieben, einem kalten Mythos huldigen. Mehr als hundert Jahre nach der Entstehung des Romans lässt sich das Faszinosum Amerika so kaum noch zum Leuchten bringen. Die ästhetisch lobenswerte Stilübung in Wort und Bild scheint so gar nicht in die radikale Geistesgegenwart zu passen, die Abende am Gorki-Theater normalerweise ausmacht. Baumgartens Amerika performt einwandfrei, kommt aber von dem Menetekel nicht los, den es am Anfang selbst in den Raum warf: Einer Kultur des Verschwindens, in dem alle Bewegung nur noch um eine schon völlig leere Mitte kreist.