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Olivier Py verabschiedet sich von Avignon
Gemischte Bilanz
von Eberhard Spreng

Schon seit langem hat sich der bekennende Homosexuelle, Katholik und Poet Olivier Py mit der Travestie-Figur „Miss Knife“ ein Bühnen-Alter-Ego geschaffen. In dieser Rolle verabschiedete er sich am Ende seiner Amtzeit als Festivaldirektor vom Publikum in Avignon.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 27.07.2022 → Beitrag hören

Der Festivaldirektor als Transvestit im roten Fummel seines Alter Ego Miss Knife, an der Seite des ukrainischen Freak-Caberetts Dakh Daughters und der beninischen Sängerin Angélique Kidjo. Im Hintergrund die ukrainische Fahne mit dem Schriftzug: „Zusammen müssen wir siegen“. Mit diesem Bild verabschiedet sich der Autor, Schauspieler, Regisseur und Festivaldirektor Olivier Py am letzten Abend von einem jubelnden Publikum. Das hatte zuvor einige seiner bittersüßen Lebensschmerzchansons gehört. Mit erstaunlich ausgebildeter Stimme hatte er vom Liebesleid, von Glanz und Elend des Künstlerlebens gesungen. Zusammen mit Angélique Kidjo schmetterte er dann das „Hallelujah“ des Leonard Cohen in den Saal. Regelrechte Stürme der Begeisterung allerdings löste die bizarr-kabarettistische Performance der Kiewer Dakh Daughters aus, die seit März im französischen Exil sind.

„Warum all das Elend?“ fragen die Dakh Daughters mit klangmächtiger Unterstützung durch das Orchestre National Avignon-Provence, während auf einer Videoleinwand die schöne Geometrie des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci von Bildern der Verzweiflung und des Chaos abgelöst wird. „Miss Knife et ses Sœurs“ bringt zum Abschluss des Festivals noch einmal einige Elemente zusammen, die zum Markenkern der Theaterschau unter Olivier Py gehörten: Ein queerer künstlerischer Leiter mit dem Hang zu einfachen politischen Botschaften und dem festen Glauben an die Weltverbesserung durch die Poeten und Künstler.

„Das Festival steht in gewissem Sinne für eine politische Revolution, es ist viel mehr als eine Aufführungsliste. Denn es bildet eine Gemeinschaft, die sich zusammenfindet, um anders über die Welt nachzudenken und vielleicht: um sich zu engagieren.“

Wer die 9 Jahre Amtszeit des egozentrischen Multitalents Olivier Py bilanziert, wird sich an die Anfänge erinnern. Die postdramatischen, dokumentartheatralen und performativen Formate, die seine Vorgänger in die Sommertheaterschau eingebracht hatten, sollten dem klassischen Schauspielertheater weichen. An die Stelle der Videoscreens, der Installationen und Immersionen traten wieder die knarzige Podestbühne, demonstratives Spiel und ein poetisch verbrämtes Gutmenschentum. Die Sprache wurde wieder unumstrittenes Leitmedium der theatralen Erfahrung. Auch in diesem Jahr war das in den Mammutproduktionen und vor allem bei Olivier Pys zehnstündiger „Ma jeunesse exaltée“ bis zur Schmerzgrenze deutlich. Unbedingtes Powerplay, platteste Figurenzeichnung, einfachstes Gut-Böse Schema und ein sich in Aphorismen, Kalendersprüchen und Bonmots verlierender Text. Aber es gibt dafür ein begeistertes Publikum.

Der Gründungsimpuls im Jahre 1947 war die Überwindung der durch den europäischen Faschismus korrumpierten Nationalseele durch Theaterkunst. Heute versteht sich das Festival als die europäische Reparaturwerkstatt für Demokratiedefekte. Und keiner hat diesen Avignon-Mythos diskursiv besser vermarktet als Olivier Py. Aber er hat es sich und dem Publikum zu leicht gemacht. Als Kritikinstanz für zivilisationsgeschichtliche Irrwege hat Avignon in den letzten Jahren deutlich abgebaut. Weltentrettung durch Poesie ist eine naive Formel, holte aber Teile des Publikums da ab, wo es vor Jahrzehnten stehen geblieben war: In der wehmütigen Erinnerung an den Mythos Jean Vilar, der das Festival gegründet hatte. Bei allen von Programmkuratorin Agnès Troly eingebrachten Impulsen, Avignon trug unter Pys Leitung inhaltlich und ästhetisch restaurative Züge. Andererseits hat er ein Festival, das drohte zur einfachen Abspielstätte internationaler Co-Produktionen zu werden, wieder stärker in Avignon verankert.

„Das Festival lebt in und mit der Stadt Avignon. Es fördert diese Region und ist eng vernetzt mit den Schulen, den Stadtvierteln und den Gefängnissen. Das ist etwas Neues. Es ist Modell und Vorbild. Zum Beispiel für die Dezentralisierung in Frankreich und Europa. Das macht uns Stolz und ist Erbe des Festivalgründers Jean Vilar. Wir haben es wiederbelebt, zusammen mit unserem Publikum, das uns immer treu geblieben ist.“

Der neue Leiter Tiago Rodrigues, kommt aus Portugal und war in diesem Jahr nur als Dramatiker präsent. Aber seine Iphigenie-Bearbeitung hatte genau jene kluge Komplexität, die Avignon braucht, um ein simples Denkschema zu überwinden: Die Ordnungsmacht Literatur ist nicht per se eine Rettungsinsel für die von Plagen, Krisen und Kriegen zerrüttete Menschheit.