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Frank Castorf inszeniert in Dresden
Wunde Europa
von Eberhard Spreng

Frank Castorfs Inszenierung des „Wallenstein“ am Staatsschauspiel Dresden ist nicht seine erste Begegnung mit dem deutschen Klassiker. Eine legendäre Inszenierung der „Räuber“ stand emblematisch am Anfang der Ära Castorf an der Volksbühne. Sieben Stunden harrt das Publikum aus.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 15.04.2022 → Beitrag hören

Foto: Sebastian Hoppe

Eine Reichsfahne mit Doppeladler hängt breit vor einem Gerüst, aus dem hoch oben lauter Standarten herausragen. Der Dreißigjährige Krieg ist in die Jahre gekommen und hat schon unzählige Opfer gefordert. Nackt, blutüberströmt und mit aufgeschminkten Fleischwunden postieren sich die Überlebenden auf der Vorderbühne, zum Prolog für Schillers Wallenstein. Frank Castorf lässt keine Zweifel aufkommen: Zu gewinnen hat das Kollektiv beim Blutvergiessen nichts. Im zweiten Schritt fragt er sich dann, wer denn aus diesem Krieg Profit zieht und Angst haben müsste vor seinem Ende. Wallenstein zum Beispiel, der Erfinder einer neuen Kriegsökonomie: Sobald er genug Soldaten unter seinem Befehl versammelt hat, kann er Geld abpressen, von wem auch immer er will. Mit vorher nicht gekannter Brutalität wurde zudem die Bevölkerung terrorisiert, mit Mord, Vergewaltigung, Zerstörung. Magdeburgisieren nennt man das seitdem, nach der Zerstörung der Stadt an der Elbe, 1631, Mariupolisieren, so müsste man das heute nennen? Aber eins vorweg: In sieben, mal aufregend schönen, mal zäh dahingehenden Stunden vermeidet der Regisseur mit geradezu auffälliger Sorgfalt fast alle naheliegenden Verweise auf das aktuelle Leid in der Ukraine. Und das obwohl vom Elend der Europäischen Kriege immer wieder die Rede ist.

„All diese grässlichen Bilder, dieses hartnäckige Wiederauftauchen des Pferdewieherns, des grässlichen traurigen Geruchs toter Pferde. Glauben sie nicht, dass sie den Bildern des Krieges entsprechen? Diese Stimmen, dieser Geruch, dieser Geruch des toten Europa?“

Ein ergreifendes Schwarz-Weiß-Video flackert über die Leinwand: Pferdeköpfe ragen aus einer verschneiten Ebene heraus: Skulpturen des Todes. Von der „Wunde Europa“ ist die Rede, in Texten, die Castorf, seinem dekomponierenden Kollagestil entsprechend, Schillers Wallenstein zugesellt hat. An Kriegsgräuel in Polen wird erinnert , an den Schlächter Hans Frank und zahllose andere Schandtaten der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.

Aber warum all das Elend? Weil der Krieg sich selbst ernährt. Sich selbst finanziert. Und weil er eine Entgrenzungssituation schafft, aus der Adrenalin, Testosteron- und Machtsüchtige nicht mehr loskommen wollen. In Frank Castorfs mondäner Salonwelt teilen sich Männer und Frauen die Rollen der beteiligten Generäle, Hauptmänner, Herzöge. Die Damen sind in wie immer aufreizender Abendgarderobe auf der Bühne, lasziv verführerisch. Wie immer lädt Castorf Verrat mit Eros auf. Henriette Hölzel bleibt in einem durchgängig überzeugenden, weiblichen Ensemble in Erinnerung, in einer grotesken Geburtsszene, als Tänzerin mit manisch-mechanischer Körpersprache. Die Herren agieren mitunter im Kabarett der Albernheiten: Mit kleinen Holzpanzern flitzen sie über die Bühne, rempeln sich an wie beim Autoscooter, balancieren ungeschickt auf den wegrollenden Fahrzeugen und fragen sich grölend: „Ist das noch DDR-Material? Wir könnte es verschicken!“ Einer der seltenen Verweise auf Aktuelles: die Frage der Lieferung alter Panzer aus DDR-Beständen an die Ukraine, der die Bundesregierung vor kurzem zustimmte. Für die bittere Gegenwart ist die Komik zuständig, für die Geschichte der heilige Ernst. Und der flimmert, als Tragödie des persönlichen Erlebens, zum farbenreichen Soundtrack von übergroßen Gesichtern auf der Videoleinwand.

Laut ist der Film, leise ist der Raum. Castorfs bildstarkes Theater ist vor allem aufregend in der Nahaufnahme, in einer Veroperung der großen Gefühle von Verlorenheit. Natürlich fällt eine siebenstündige Aufführung hinter einmal erreichte Spannungshöhepunkte immer wieder zurück, widerlegt sich selbst in einer Art Dialektik der Aufmerksamkeit zwischen Ermattung und Begeisterung.

Es ist sehr spät geworden und tiefe Nacht, als Frank Castofs doch noch eine Botschaft verkünden will. Wieder eine, die nichts mit der Ukraine zu tun hat. In einer Reihe an der Vorderbühne aufgestellt, wie im blutigen Eingangsbild, verkündet das Ensemble eine Botschaft der Zapatistas. Das ist eine vor allem von indigenen Mexikanern gebildete Befreiungsarmee. Sie hatte sich nach Jahren des bewaffneten Widerstandes einem friedlichen politischen Kampf verschrieben. Auch Wallenstein wollte nach Jahrzehnten der Schlachten das Ende des Krieges. Das bleibt heute die große Frage. Wie kommt das Denken in Europa heraus aus der Logik und der Sprache des Krieges.