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Édouard Louis an der Schaubühne
Der Autor als Schauspieler
von Eberhard Spreng

2018 erschien Édouard Louis’ „Qui a tué mon père“, in dem er das Verhältnis zu seinem gewalttätigen Vater analysiert. In Thomas Ostermeiers in Frankreich entstandenem Theatersolo  steht nun der Autor selbst auf der Bühne.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 08.10.2021 → Beitrag hören

Foto: Jean-Louis Fernandez

Eine Autobahnfahrt im Nebel. Das zeigt die große Leinwand hinter der Rundbühne. Rechts ein kleiner Tisch mit Notebook, dahinter der Autor Édouard Louis. Seine Hommage an den verhassten Vater „Qui a tué mon père?“ beginnt also in Bild und Ton mit einer Reise ins Ungefähre, Nebulöse, als stille meditative Annäherung an die eigene Familiengeschichte und die politischen Ursachen ihres Elends.

„Die Politik, so sagt der Autor, ist die Unterscheidung zwischen einer privilegierten und geschützten Bevölkerung und einer, die einem frühen Tod ausgeliefert ist, der Verfolgung und dem Mord.“

Zu dieser programmatischen Aussagen fällt der Blick auf reizlose Winterlandschaften in schwarz-weiß, leblose Dörfer, flaches Land. Thomas Ostermeiers Videoabteilung, Sébastien Dupouey und Marie Sanchez, begleiten die Innensicht auf die psychologischen Prozesse in einer nordfranzösischen Arbeiterfamilie mit einem eindrücklichen Bilderkommentar. Der Vater und seine gewalttätigen Ausbrüche, die Mutter und ihre Angst vor sozialer Ächtung, der Bruder, seine Verhaltensauffälligkeit und Neigung zu Kleinkriminalität, all das wird eingefasst von Bildern einer latent unfreundlichen und leeren Welt.

Links steht ein alter abgeschabter Sessel. Zu ihm spricht der Autor immer wieder. Er repräsentiert den Vater, den ein Arbeitsunfall zum Invaliden machte und dem die französischen Regierungen der letzten Jahrzehnte die Sozialhilfen zusammenstrichen. Mit einer berührenden Mischung aus Hass und Einfühlung schildert Édouard Louis dessen Leben, den auch schon gewalttätigen Großvater, ein proletarisches Männerbild. Dazu gehört sich individuell zu behaupten, indem man sich allen systemischen Zwängen widersetzt, allen voran der Schule und den Lehrern. Ein Selbstbild, das von aggressiver Homophobie geprägt ist.

„Männlich sein hieß, die Schule so früh wie möglich zu verlassen, um damit Stärke zu zeigen. Seine Männlichkeit zu entwickeln hieß so auch, auf Lebensmöglichkeiten und Zukunftschancen zu verzichten. Deine Männlichkeit hat dich in die Armut verbannt. Der Hass auf Homosexualität bedeutet Armut.“

So bilanzierte der Autor, der später in Paris studierte, die psychologischen Gründe für die von Gewalt geprägte Biographie des Vaters. Ein Bild zeigt ihn als jungen Mann in Frauenkleidern, in einem Moment glücklicher Selbstvergessenheit, die der wahre Grund für die Ablehnung des homosexuellen Sohnes ist. Der verdrängte, eigene Hang zu Homosexualität. Als der junge Édouard bei einem Familientreffen eine Sängerin imitiert, quittiert der Vater das mit Abwendung. Nun aber tanzt der Autor ausgelassen zu „Barbie Girl“ und Thomas Ostermeiers biographisches Theater wird zum Ort der Heilung für die Verletzungen der Kindheit.

Das Schöne an dieser Theaterversion ist, dass sie Édouard Louis nicht einfach nur vorführt, als Attraktion im Authentizitätsbasar. Davon gibst auf Bühnen schon genug. Thomas Ostermeier hat den Autor wirklich zum Schauspieler gemacht. Zu einem verdammt guten. Deshalb kann das Publikum sich in die dramatischen Erfahrungen, die seelischen Verletzungen und Niederlagen einfühlen, ohne je peinlich berührt zu sein.

Der französische Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Stanislas Nordey hatte den Text dereinst bei Édouard Louis in Auftrag gegeben und in seiner Urinszenierung dieser autobiographischen Streitschrift in Paris vor zweieinhalb Jahren mit klarer Didaktik den Zusammenhang von politischer, also struktureller und individueller Gewalt herausgearbeitet. Èdouard Louis erlebte das als Zuschauer. Thomas Ostermeier, der väterliche Gewalt aus eigener Erfahrung kennt, kommt weiter in die psychologischen Tiefenschichten in Édouard Louis Biographie. Das Ergebnis sind knapp zwei Stunden konzentrierter Theaterfreude, die gleichermaßen berührt und erhellt.