Dogs-of-Europe-zum-Abschluss-des-Pariser-Herbstfestivals

Festival d’Automne in Paris
Pariser Herbstfestival endet in starken Bildern
von Eberhard Spreng

Das Festival d’Automne bietet zum Abschluss Dialoge von bildender und dramatischer Kunst, zeitgenössischen Positionen und musealem Kulturerbe. Und ein Gastspiel des belarussischen Exilensembles „Belarus Free Theatre“ mit starkem Gegenwartsbezug.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 14.12.2022 → Beitrag hören

Installation: Belarus Free Theatre. Foto: Eberhard Spreng

Auf jedem der 400 Plätze im Berthier-Saal des Théâtre de l’Odéon wartet ein Porträt auf die Zuschauerinnen und Zuschauer. Es sind Porträts von 400 belarussische Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime 2020 festgenommen, gefoltert, vergewaltigt oder getötet wurden. Die Aufführung des belarussischen Exilensembles „Belarus Free Theatre“ basiert auf dem Roman „Die Hunde Europas“ des Weißrussen Alherd Bacharewitsch. Der hatte 2017 die aktuelle europäische Kriegswirklichkeit vorweggenommen: Seine in Weißrussland verbotene dystopische Zukunftsvision schildert einen Dauerkonflikt zwischen einem riesigen, repressiv geführten Russland, dem so genannten „neuen Reich“, und der freiheitlichen Liga der europäischen Staaten.

Das Publikum erlebt in der dramaturgisch etwas verworrenen Geschichte eine ungemein körperbetonte, choreografisch und musikalisch aufgeladene Performance. Als Ballade, als Volksmärchen mitten in der belarussischen Provinz des Jahren 2049 beginnt die dreistündige Aufführung: Als Bilderbogen mit Popen, Militär und Bauern. Der zweite Akt schildert als Reise durch den noch freien Westen die Suche nach einer Gedichtsammlung. Gespielt wird in den noch verbliebenen Überresten von höchst selten gewordenen Buchhandlungen, in einer Zivilisation, die die Kulturpraxis des Lesens aufgegeben hat. Ein starkes Bild am Ende. Die Performer mit aufgeschlagenen, brennenden Büchern. Ein Bild voller Ambivalenzen: In jedem Buch lodert die Flamme der Erkenntnis. Wer sie erstickt, wie die Performer am Ende, indem sie die Bücher zuschlagen, bleibt im Dunkel zurück. Andererseits ist ein brennendes Buch immer Bild der Repression und Zensur.

Die Truppe hatte eine erste kleine Version des Stücks im März 2020 in Minsk in geheimgehaltenen Aufführungen gespielt, bevor die Performer in die Ukraine und dann nach Polen flüchten mussten. Der aus der Ferne inszenierende Regisseur Nicolai Khalezin und Regisseurin Natalia Kaliada waren schon seit 2010 im westlichen Exil. Nach der Aufführung kam die Regisseurin für ein paar eindringliche Worte auf die Bühne:

„Jede einzelne Person heute hier auf der Bühne war im Gefängnis, wurde gefoltert oder hat andere Formen der Repression erlebt. Und: In diesem Theater gibt es nicht genug Sitze für die Porträts aller politischen Gefangenen in belarusssischen Gefängnissen und alle Theaterplätze Frankreichs reichen nicht für die Porträts aller in der Ukraine getöteten Menschen.“

Die ganze Architektur – eine Vanitas-Skulptur

Abseits der drängenden politischen Fragen haben bildenden Künstler beim Festival d’Automne den Dialog zwischen ihrer aktuellen Kunst und dem Pariser Kulturerbe aufgenommen: Der französische Bildhauer Théo Mercier hat in einem großen gotischen Saal aus geformtem Sand lauter Miniaturlandschaften errichtet: Im Zentrum immer wieder Matratzen, wie zurückgelassen, neben Säulenresten auf Sandhügeln, bewacht von trägen weißen Hunden.

„Outremonde“ ist eine ephemere Installationen aus dem höchst flüchtigen Baustoff Sand. Die Säulenstümpfe der Installation gleichen in Farbe und Anmutung denen des Bauwerks aus dem 14. Jahrhundert: So wird hier der mächtige Raum selbst zu einer einzigen gewaltigen Vanitas-Skulptur: Alles ist vergänglich: Auch das Architekturmonument.

Foto: Anne Van Aerschot

Das Festival d’Automne setzt an sein Ende einige spannende Akzente im Dialog zwischen dem Kulturerbe und aktueller Kunst. Höhepunkt ist Anne Teresa De Keersmaekers tänzerisch-gestischer Kunstkommentar im Denon-Flügel des Louvre. An mehreren Stellen bebildern, begleiten und ergänzen lebende Körper den gemalten Gestus berühmter Gemälde. Heutige Körper im Dialog mit Posen vergangener Epochen und Stile. Eine fast unbewegte Installation öffnet den Blick auf die Erkenntnis eines Unterschieds: Da liegt eine Performerin zu Füßen eines Goldgrundgemäldes auf dem Museumsboden. Goldene Rettungsfolie bedeckt ihren Körper. Der metaphysischen Rettung der Malerei liegt ein Bild für die Lebensrettung zu Füßen, wie man es von Flüchtlingsdramen und Verkehrsunfällen kennt. Zweimal Gold mit ganz unterschiedlicher Bedeutung.

Bob Wilson in der Sainte-Chapelle

In der von Touristen belagerten Sainte-Chapelle hat Bob Wilson im Rahmen des Herbstfestivals eine Sound-Installation eingebaut: Einige Worte aus „De rerum natura“ des einigermaßen religionskritischen, römischen Epikuräer Lukrez erklingt im Sakralraum sind zu hören. Bob Wilson nennt seine Installation nicht ohne Ironie „Gloria“. Frankreich bleibt halt auch in seinen religiösen Heiligtümern eine der Aufklärung verpflichtete Republik. Und es feiert noch einmal seinen Nationaldichter Molière. Das belgische Performancekollektiv TG Stan hat zwei Komödien des Klassikers zu einem grell klamaukigen Abend verbunden.

„Monsieur, non! Ahh! Aahhh!“

Zu spüren sind in „Poquelin II“ vor allem kulturelle Quellen, aus denen sich Molières Theater speiste: Hanswurstiaden, die selbst vor derben Scherzen nicht zurückschrecken, um das Publikum zu amüsieren. Die haben in vier Jahrhunderten nichts von ihrer Wirkung verloren. Das Festival d’Automne öffnet mit starken zeitgenössischen Positionen historische Zeiträume und macht Geschichte sinnlich erfahrbar.