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Tabuthema Inzest
Das Ende des Schweigens
von Eberhard Spreng

2021 gründete der französische Präsident Emmanuel Macron die unabhängige Untersuchungskommission CIIVISE. Die „unabhängige Kommision für Inzest und sexuelle Gewalt gegen Kinder“ legte nun ihren Bericht vor. Parallel dazu befassen sich nun auch das Theater und ein Dokumentarfilm von Filmstar Emmanuelle Béart mit dem Tabuthema.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 29.12.2023 → Beitrag hören

„Le Voyage dans l’Est“ (Foto: Jean-Louis Fernandez)

Auf der Bühne: drei Frauen unterschiedlichen Alters. Sie alle verkörpern Christine, die im Alter von 14 Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Die drei stehen für verschiedene Stadien der Bewältigung des Inzests. In einer äußerst schlanken Inszenierung sucht sich eine nüchterne Sprache den Weg hin zum Unsagbaren, Unsäglichen, den Weg ins Tabu. Stanislas Nordey inszeniert.

„Wie können wir das darstellen? Die Frage stellt sich hier besonders. Illustrieren, ja Zeigen verbietet sich. Jeder weiß, dass das im Theater fake ist. Allein die Worte tragen.“

Grundlage der Aufführung ist der autobiographische Roman „Voyage dans l’Est“ von Christine Angot. Sie gilt als Vorreiterin, wenn es um die Sichtbarkeit der Opfer von sexueller Gewalt in der Familie geht.

„Der Täter ist immer jemand, den sie lieben. Und der zugleich seine Macht über sie missbraucht. Und im Fall ihres Vaters ist das nicht irgendwer. Sie schämen sich für ihn. Und es verletzt. Denn in ihrer Familie sind sie jetzt ein Kind zweiter Klasse. Sie spüren genau, dass ihnen da nichts Ehrenvolles zustößt. Das eigene Ehrgefühl ist wichtig für Kinder.“

Erst im November stellte die französische Inzest-Kommission ihren Bericht vor. Die Zahlen sind erschreckend: Eins von zehn Kindern wird Opfer sexueller Gewalt, gut 80% der Täter stammen aus der Familie. Es geht um Väter, Brüder, Onkel, um Freunde der Eltern. Neun von zehn Kindern entwickeln psychische oder posttraumatische Störungen, eines von dreien wird Selbstmordversuche unternehmen. Aber nur drei Prozent der Missbrauchsfälle, die sich in der Regel über lange Zeiträume wiederholen, führen zur Verurteilung des Aggressors. In Toulouse stellte die Regisseurin Melissa Zehner im November die auf mehrjährigen Recherchen beruhende und von Psychologen begleitete Inszenierung „La nuit se lève“ vor.

“Wir haben viel über die Schockwirkungen gesprochen, die Diskurse über Gewalt beim Publikum auslösen können. Wir mussten also eine Erzählform finden mit poetischen, ja auch spielerischen Momenten.“

Emmanuelle Béart im Dokumentarfilm „Un silence si bruyant“

Immer mehr Menschen, die ihre Erfahrungen bislang hinter einer Mauer des Schweigens verbargen, gehen in die Öffentlichkeit. Auch Berühmtheiten wie die Film- und Theaterschauspielerin Emmanuelle Béart, die ihren Missbrauch in dem berührenden Dokumentarfilm „Un silence si bruyant“ – „Ein so lautes Schweigen“ offenlegt. Hier erklärt der Psychotraumatologe Cyril Tarquino im Gespräch mit der Künstlerin die psychischen Folgen des Missbrauchs.

“Das Verhältnis zum eigenen Körper und zur Lust wird zerstört, bevor es sich überhaupt entwickelt konnte. Was hat man da erfahren? Dass man nichts wert ist, und dass die einzige Wertschätzung dem Körper gilt.“

Im Gespräch erkennt die recherchierende Schauspielerin nun die wahren Hintergründe ihrer Berufswahl:

„Ich habe mich lange gefragt warum ich diesen Beruf gewählt habe, und wie ich ihn ausübe: In der Betonung des eigenen Körpers, seiner Sexualisierung und der Sexualisierung seines Abbildes. Jetzt habe ich eine Antwort auf eine Frage, die ich mir immer gestellt habe.“

Von drei Kreisen des Verschweigens spricht Emmanuelle Béart an anderer Stelle, dem persönlichen, dem familiären und dem gesellschaftlichen. Theaterregisseur Stanislas Nordey widmet in seiner Arbeit einem dieser schweigenden Zeugen eine lange Passage seiner Aufführung.

“Es gibt viele, die etwas mitbekommen haben, aber nichts unternehmen. Nachbarn, die aus der Wohnung nebenan Schreie hören. Sie fragen sich: Ist das Privatleben, geht mich das etwas an?“

Erst vor wenigen Tagen erfuhr eine entrüstete Öffentlichkeit, dass die Vorsitzenden der schon erwähnten unabhängigen Untersuchungskommission von der Regierung entlassen wurden. Ein Drittel ihrer Mitglieder verließ daraufhin die Kommission aus Protest. Sie vermuten, dass die Politik davor zurückschreckt, die erschütternden Erkenntnisse der Studie in politisches Handeln umzusetzen. Emmanuelle Béart hat dafür in ihrem Film eine ernüchternde Erklärung.

„Ich begreife, dass ich es hier nicht nur mit einem familiären Problem zu tun habe. Sondern mit einem gesellschaftlichen. Wir leben auch heute noch in einer von Männern dominierten Welt, einer patriarchalen Ordnung, die für die Bewegungslosigkeit des Rechtssystems sorgt.“

Frankreich hat mit seiner Untersuchungskommission und seinem Kulturbetrieb einen Schritt nach vorne gemacht. Aber das Zögern der Politik gefährdet diesen Prozess.