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MeToo im französischen Theater
Theaterleitungen im Dilemma
von Eberhard Spreng

Nach vereinzelten Fällen im Vorjahr wurden Fälle sexualisierter Gewalt im französischen Theater im Verlaufe des Jahre 2021 zum Auslöser für eine breite Bewegung. Nun hat Metoo Théâtre auch die Politik erreicht.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 22.12.2021 → Beitrag hören

Es könnte sein, dass in den Schminkzimmern oder Ateliers französischer Theater ab dem kommenden Jahresanfang Merkblätter hängen mit Hinweisen für den Umgang mit sexuellen Übergriffen. Oder dass den Honorarabrechnungen für freie Bühnenkräfte Flyer ähnlichen Inhaltes beiliegen. Wohl wird es bei den Proben auch so etwas wie eine Beratung für den Umgang mit Nacktszenen geben oder für die Proben von Szenen mit sexuellem Unterton. Dies und einiges mehr sieht eine Richtlinie des französischen Kulturministeriums vor, die vor einigen Tagen vorgestellt wurde und mit dem Jahresanfang in Kraft treten soll. Dazu gehört auch, dass die Theater die Einhaltung dieses Regelwerkes nachweisen müssen, um weiterhin subventioniert zu werden. Ministerin Roselyne Bachelot hat sich im Kampf gegen die „VHSS“ abgekürzte sexistische und sexuelle Gewalt und Belästigung viel vorgenommen.

„Der Kampf gegen sexistische und sexuelle Gewalt ist eine Priorität meines Ministeriums. Wir sind nicht passiv geblieben angesichts dieses Problems und ich darf daran erinnern, dass einige der Vorschläge, die das Kollektiv „metoo théâtre“ gemacht hat, jetzt umgesetzt werden. Ich denke da an die Telephonnotrufnummer und die Ernennung von Beauftragten in den Theatern, die meiner Verantwortung unterstehen.“

Das eben erwähnte Kollektiv metoo théâtre hatte sich auf Initiative einer Youtube-Influencerin gebildet, der Theaterkritikerin Marie Coquille-Chambel. Die beschuldigt einen Schauspieler der Comédie Française der Gewalt ihr gegenüber und hatte mit einem Tweet eine französische metoo-Welle ausgelöst, die im vergangenen Oktober zum Höhepunkt wurde in der Debatte um sexuelle Übergriffe im französischen Theater. Coquille-Chambel beklagt die Trägheit der französischen Justiz und eine „Omertà“, ein Verschwiegenheitssystem in Bezug auf Fälle sexualisierter Gewalt.

„Jedes Mal, wenn eine Untersuchung anstand, blieb sie folgenlos. Wenn keine Klage erhoben wird, passiert sowieso nichts; wenn eine Klage anhängig war, passierte nichts während des Verfahrens; wenn es eine Verurteilung gab wie in meinem Fall, blieb sie ohne Folgen und wenn jemand verurteilt wurde und seine Strafe absaß, kam er danach wieder in seine alte Position. Was auch immer geschieht, es lohnt sich für den Aggressor.“

Vor allem junge Schauspielerinnen sind in Theaterschulen, bei Castings und Proben von sexuellen Übergriffen betroffen. Viele scheuen vor Strafverfolgungen zurück, da sie Angst haben, dann künftig nicht mehr engagiert zu werden. Vielleicht erklärt dies auch, dass Metoo Théâtre sich vehement gegen Männer zur Wehr setzt, denen in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe zur Last gelegt wurden. Jenseits der Justiz ruft die Initiative zum Berufsverbot auf.

Wird Metoo zur Cancel-Culture ?

Drei Beispiele befeuern in diesen Tagen die Debatten. Das Prominenteste: Sänger Bertrand Cantat saß wegen des Totschlags von Marie Trintignant vier von acht Jahren in Haft und komponierte nach seiner Entlassung im Jahre 2007 Musik für Inszenierungen des Frankokanadiers Wajdi Mouawad. So auch wieder vor kurzem, Mitte November: Die Uraufführung begann mit Tumulten vor dem Theater. Eine Aktivistin, die Schauspielerin Mélodie Molinaro:

„Ich verstehe das Argument, das zwischen dem Menschen und seinem Werk unterscheidet. Aber nein, in letzter Konsequenz ist alles politisch.“

Weitere Fälle: Der wegen Mangels an Beweisen in einem Vergewaltigungsprozess freigesprochene Regisseur Jean-Pierre Baro verlor seinen Intendantenposten und soll im kommenden Jahr an Mouawads Théâtre de la Colline inszenieren. Metoo Théâtre will das verhindern; das Projekt ist für die Belegschaft des Theaters eine Zerreißprobe. Der des mehrfachen sexuellen Übergriffs und der Vergewaltigung beschuldigte Theaterleiter und Regisseur Michel Didym stellt während des Verfahrens seine beruflichen Betätigungen ein. Aber seine letzte, gerade auf Tournee befindliche Inszenierung „Habiter le Temps“ wird zum Beispiel in Lyon vom Spielplan genommen. Die lahme Justiz provoziert eine folgenreiche Selbstermächtigung. Metoo Théâtre, eine notwendige Bewegung im Herzen der Theaterarbeit droht Cancel Culture zu werden. Viele Theaterchefs stehen jetzt vor einem riesigen Dilemma: Heftige Proteste vor und in den Häusern akzeptieren im Dienste einer trotzigen Kunstfreiheit? Oder Spielplaneingriffe um des lieben Friedens willen mit einer im Grunde berechtigten Bewegung? Oder krampfige pädagogische Rahmenprogramme rund um inkriminierte Aufführungen? Über all diese Varianten denkt man derzeit in französischen Intendantenbüros nach. Aber wohl nicht im französischen Kulturministerium: Es belässt es bei seiner Metoo-Richtlinie und hält sich ansonsten raus.