Das ambitionierte Digitalprogramm der Comedie-Francaise

Comédie-Française online
Dreizehn gegen das Männerphantasma
von Eberhard Spreng

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 10.01.2021 → Beitrag hören

Das Digitalprogramm der Comédie-Française ist exemplarisch für ein Theater unter dem Zwang zur Digitalität. Vor allem sein „Théâtre à la Table“ mit dem Reenactment eines Klassikers des feministischen Dokumentarfilms „Sois-belle et tais-toi“.

Foto: Comédie-Française/Kronos-Films

« Elle avait non seulement pour ses amis, mais pour les domestiques, pour les pauvres, des attentions délicates, longuement méditées, un désir de faire plaisir. »

Danièle Lebrun liest aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dem siebenteiligen Romanepos von Marcel Proust. Täglich wechseln sich verschiedene Ensemblemitglieder ab bei der etwa einstündigen Lesung an einem einfachen Tisch vor diversen Leinwänden, mit Atelieratmosphäre und Malersaalcharme. Die Schauspieler sind in der nun 37. Lesung gerade mal „Im Schatten junger Mädchenblüte“ angekommen. Das ehrwürdige Theater hofft, dass ihm der Lesestoff bis zum Ende der Pandemie nicht ausgeht. Dann hätte die Kultur das letzte Wort behalten, ein Triumph über das Virus auf dem Gebiet alles Zeitlichen. Die erste Folge haben sich bereits über 50 Tausend Menschen angehört und angeschaut, weit über Tausend sind es in der Regel nach 24 Stunden für die aktuelle Lesung. Aber Literatur ist nur Teil des umfangreichen Onlineprogramms.

Der Zwang zur Digitalität und der Verzicht aufs physisch präsente Publikum hat kuriose Folgen, wie Intendant Éric Ruf erklärt.

„Es macht mir eigentlich keinen Spaß sagen zu müssen, dass wir paradoxerweise, seit wir nicht mehr spielen können, noch nie soviel Publikum hatten, und dass wir ihm nun, da wir ihm nicht mehr begegnen können, noch nie so nahe waren.“

Fast 800.000 Zuschauerinnen und Zuschauer im Digitalprogramm, soviel hätte das Haus mit seinen drei Spielstätten physisch nicht erreichen können. Herzstück des Spielens im digitalen Raum sind Projekte, die jede Woche neu, in kurzer mehrtägiger Probenzeit entstehen. „Théâtre à la Table“ Tischtheater heißt die Reihe. Sie erinnert stark an die Atmosphäre von Leseproben, mit der traditionell die Probenarbeit beginnt. Neben dem zeitgenössischen Repertoire wird das Haus seiner Rolle als Theater der Klassiker etwa mit Marivaux’ „Les Fausses Confidences“ gerecht, oder Molières beliebter Erfolgskomödie „Tartuffe“:

– „Que dites-vous de Tartuffe, notre hôte ?
– Hélas, j’en dirais moi tout ce que vous voudrez.“

Ein großer Tisch, Stühle, ein auf die Gesichter konzentriertes Licht, aufwändig mit mehreren Kameras eingefangene Momente von Theater ohne Raum, Momente des Entstehens von Theater, in denen die ganze Palette des emotionalen Ausdrucks schon erkennbar wird und Nähe, die im physischen Theater nicht möglich ist.

An das einstmals legendäre Musik-Kabarett „Le Boeuf sur le Toit“, dem Ochs auf dem Dach, erinnert ein Abend mit dem mehr als doppeldeutigen Titel „Le Boeuf sur la table“, Fleisch auf dem Tisch, als Gemeinschaftsarbeit von Musikern und Schauspielern.

13 Frauen erkunden den Feminismus der Vergangenheit

Die bislang aufregendste Arbeit versammelt 13 Schauspielerinnen zu dem Theater-Reenactment eines Dokumentarfilms. In den 1970er Jahren hatte die Schauspielerin und Feministin Dephine Seyrig amerikanische und französische Kolleginnen zum Verhältnis von Geschlechter- und Filmrolle befragt. In „Sois belle et tois-toi“ berichteten Jane Fonda, Shirley MacLaine, Maria Schneider, Marie Dubois und andere vom Gefühl des Selbstverlustes, der Unterdrückung, von Geschlechterklischees in einer von Männern dominierten Filmbranche.

„Es gibt keine wirklich schönen Frauenrollen, nur Klischees. Das Kino ist doch nichts anderes als ein einziges Männerphantasma. Wie soll man da eine 50- oder 60-jährige Frau besetzen. Sie hat da keinen Platz, also wird sie eliminiert.“

Das sagte dereinst die amerikanische Akteurin Rose Gregorio, vertreten von der Comédie-Francaise-Darstellerin Danièle Lebrun. Die Haltungen von Frauen aus der Zeit des Simone-de-Beauvoir-Feminismus, erneut befragt von heutigen Schauspielerinnen in Zeiten von Metoo. Das ist eine über eindreiviertel Stunden aufregende Konfrontation, die in gepflegten schwarz-weiß Bildern, mit dezenten Kamerafahrten, an die besten Traditionen des Fernsehspiels der 1970 und 80er Jahre erinnert. Am Ende, wenn der Dokumentarfilm als Leseprobe nacherzählt ist, wechselt das Bild in die Farbe, die Akteurinnen setzen sich nun rücklings auf den Tisch und beantworten Delphines Seyrigs Fragen von damals nun aus ganz persönlicher und heutiger Perspektive. Deutlich wird: Vieles hat sich geändert, aber das Gefühl des Zweifels, des fehlenden Selbstbewusstseins ist geblieben. In einer aufregenden Erkundung erzählt dieses Projekt auch vom Spannungsverhältnis von Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung. Die Vorhänge bleiben geschlossen, aber vor allem ihren Schauspielerinnen war das Publikum der Comédie-Française noch nie so nahe.