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Autobiografisches Mammutwerk in Paris
Die Unschärferelationen des Lebens
von Eberhard Spreng

Der frankolibanesische Dramatiker, Regisseur und Schauspieler Wajdi Mouawad legt sein autobiografisches Opus Magnum vor. „Racine carée du verbe être“ spielt mit Varianten des eigenen Lebens und zeigt, was alles hätte passieren können, wenn alles ganz anders gekommen wäre.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 10.10.2022 → Beitrag hören

Foto: Simon Gosselin

Ein kleiner Tisch mit einem Zauberwürfel, ein zehnjähriger Junge und ein alter Mann. Und ein Gespräch über die großen Fragen: Wie schnell ist das Licht? Und dann kommt die Frage nach der am einfachsten zu errechnenden, geometrischen Form. „Das Quadrat“ sagt der kleine Junge wie ein Musterschüler. Und schließlich die Frage: Was denn quadratisch sei und in der Natur vorkomme? „Nichts“ sagt der Junge und öffnet damit den Denkraum, in dem sich Wajdi Mouawads Opus Magnum zu Fragen des eigenen Lebens bewegt. Sechs Stunden lang spannt er zwischen dem realen Sein und der abstrakten Mathematik, den kleinen Zufällen und ihren gewaltigen Folgen, zwischen dem Erklärbaren und dem Unerklärlichen einen narrativen Bogen. Er tut dies mit einem 15-köpfigen Ensemble und 43 Figuren: Was wäre geschehen, wenn er im Libanon während des Bürgerkrieges mit seinen Eltern 1978 nach Rom statt nach Paris geflogen wäre? Für beide Ziele hatte Mouawads Vater vorsorglich Visa besorgt, Tickets sollten am Tag der Flucht für den ersten der beiden in Frage kommenden Flieger gekauft werden. Was für Perspektiven hätten sich eröffnet, wenn die Familie in Beirut geblieben wäre? Der Autor, Regisseur und hier auch Schauspieler erschafft ein Bündel von anderen Ichs, mögliche Biografien von Menschen, die bei den Abzweigungen des Zufalls andere Richtungen genommen hätten. Da ist der Maler in Montreal, der Marienbilder schafft, die Feministen und Rechtsradikale aufregen. Da ist der Doppelmörder, der in einem texanischen Gefängnis auf die Vollstreckung des Todesurteils wartet. Da ist der erfolgreiche, zynische und sadistische Neurochirurg.

Ce qui me bouleverse, Ruchini, c’est de devoir fréquenter des débiles dans des conférence de merde, j’en ai rien a foutre de Beyrouth.

Gérôme Kircher spielt ein regelrechtes Ekelpaket. Es gibt unter den autobiografischen Wajdi-Mouawad-Abspaltungen aber auch den niedergeschlagenen Ladenbesitzer mit unterdrückter Kreativität, der in Beirut ein Jeansgeschäft betreibt, bis die gewaltige Explosion vom 4. August 2020 seine Existenz vernichtet. Im ganzen ersten Teil schweben ganz ruhig, in einer formatfüllenden Videoprojektion im Hintergrund, Bruchstücke durch einen dichten Nebel. Auf der Vorderbühne werden derweil in schnell gesetzten Szenen vom ungemein vitalen Ensemble Lebensausschnitte der diversen Biografien vorgeführt.

Foto: Simon Gosselin

Es ist einigermaßen faszinierend, wie dieses Stück das Anekdotische mit dem Existentiellen verbindet, ohne dem Theater als Raum für erspieltes Leben übertriebenen Zwang anzutun. Gerne folgt man allen erzählerischen Details in diesem biografischen Möglichkeitsraum und langweilig wird das auch nach Stunden nicht. Zu clever verknüpft der Autor die fiktiven Familiengeschichten. Für alle diese oft bösartigen Wajdi-Mouwad-Menschen gibt es eine Quelle des kreativen oder mörderischen, sadistischen oder masochistischen Verhaltens: Die unverarbeiteten Erfahrungen des libanesischen Bürgerkrieges.

Einer der eher unscheinbaren Varianten in Mouawads autobiografischem Möglichkeitsspiel ist ein Taxifahrer, der seine Trompete immer mitnimmt, um in seinen Pausen eine paar Töne zu spielen. Er tut das in einem Wald, der zum Schauplatz eines Umweltstreits geworden ist. Im Kampf für den Erhalt einiger Ginkgo-Bäume, die locker noch Hunderte von Jahren zu leben hätten, fordert eine der Aktivistinnen als Fanal die kollektive Selbstverbrennung.

Die großen Fragen des Lebens

Ob aus dem Tod Leben kommen kann, ob aus dem Bösen das Gute erwächst, ob gar der Mord zur Geburtsstunde neuen Lebens werden kann, gehört zu den großen Fragen des langen Theaterabends. „Racine Carée du Verbe Être“ schreckt vor kaum einer der großen ethischen oder moralischen Daseinsfragen zurück. Mouawad entfesselt einen narrativen Zauber und lädt diesen zusätzlich auf mit physikalischer und mathematischer Metaphorik: Der Explosion, dem Big Bang von 2020 im Hafen von Beirut, quantenphysikalische Rätsel oder die Frage nach der „Quadrat-Paradoxie“. Die Wurzel aus zwei, oder die Diagonale des Quadrats ist eine irrationale Zahl mit unendlich vielen Stellen hinter dem Komma. Und in dieser nicht endenden Zahlenfolge ließen sich alle Werke Shakespeares und wohl auch die ganze Weltliteratur codieren, heißt es im letzten der drei Teile. Nun gut. Am Ende sitzen sich der alte Mann und der Junge vom Anfang am selben Tisch wieder gegenüber. Aber in der Zwischenzeit hat Wajdi Mouwad mit einer endlichen Zahl von Figuren von der Unendlichkeit des Lebens erzählt.