Im-Menschen-muss-alles-herrlich-sein-am-Thalia-Theater

Romanbearbeitung am Thalia-Gaussstrasse
In der „Fleischwolfzeit“
von Eberhard Spreng

Die 1985 im russischen Wolgograd geborene Sasha Marianna Salzmann hat im letzten Jahr ihren zweiten Roman vorgelegt: „Im Menschen muss alles herrlich sein“ wurde für den deutschen Literaturpreis nominiert und erhielt vor kurzem den Hermann Hesse Literaturpreis. Den Identitätssuche-Roman zwischen den Generationen ukrainischer Emigrantinnen hat sie selbst auch für die Bühne bearbeitet; Hakan Savaş Mikan inszeniert am Hamburger Thalia in der Gaussstrasse.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 28.10.2022 → Beitrag hören

Foto: Krafft AngererWas kann Literatur leisten? was Theater? in Bezug auf Fragen über ein Land, dessen Leid in vielfachen medialen Bildern auf Herz und Verstand einhämmert. Diese Fragen drängen sich bei Sasha Marianna Salzmanns Roman und Theaterbearbeitung auf. Denn die Menschen, deren Biografien dort auf Resonanzen zwischen individuellem Schicksal und großer Geopolitik erforscht werden, sind mit genau jenen Regionen der Ukraine verbunden, die derzeit in einem blutigen Krieg zum Hauptkampfplatz geworden sind. Die im russischen Wolgograd geborene und in ihrer frühen Kindheit in Moskau aufgewachsene Salzmann ist diesen Regionen durch die familiäre Vorgeschichte verbunden. Und sie fragt sich, was diese Geschichte mit ihrer persönlichen Identität zu tun hat. Quasi stellvertretend für die Autorin tritt im Werkraum des Thalia-Theaters die von Toini Ruhnke gespielte Edi zu Beginn der Aufführung auf die weitgehend leere Bühne:

„Ich habe eine Artikelabgabe, also – Ich hatte eine Artikelabgabe. Und dann hat die Redakteurin, also die Assistentin der Redakteurin, hat mir den Text zurück in die
Hand gedrückt. Die Redaktion will etwas anderes von mir! Nichts über das Weltgeschehen, sondern eine Reportage über »meine Leute« in den neuen Bundesländern!“

Edi und ihre Mutter Lena, Nina und deren Mutter Tatjana sind die Protagonistinnen. Ihre postmigrantischen Seelenlandschaften werden als Generationenkonflikte ausgelotet, die von tiefem Unverständnis und leidvollem Schweigen zwischen Töchtern und Müttern geprägt sind. Im Zentrum steht Lena, deren Erziehung zum Sowjetmenschen der 1970er und 80er Jahre in der Ukrainischen Volkrepublik ausführlich und detailreich Thema des ersten Romanabschnitts war. Auf dem Theater erzählt sie von ihren Erlebnissen als Pionierin, als junger Dermatologin und vor allem von den Erfahrungen mit allgegenwärtiger Bestechung und Korruption. Dazu gehört eine Erinnerung aus ihrer Kindheit als Überbringerin von Schmiergeld und ihre Enttäuschung über die Empfängerin.

„Sie hat im Türrahmen das Geld vor meinen Augen gezählt. Die hat mich nicht reingelassen. Und ich habe an ihr vorbeigeschaut. Ich habe mich so geschämt.“

Lena spricht von Scham und bricht das lange Schweigen über das Unbewältigte in ihrer Biografie. Ihre Tochter Edi nennt die Menschen aus Lenas Generation „Perestroika-Zombies“. Diese leiden unter der Enttäuschung über den Verrat an der sozialistischen Idee, dem Zusammenbruch des Sowjetreiches, dem Gefühl der Unbehaustheit im deutschen Exil. Die Töchter leiden unter Identitätsfragen. „Von der Vergangenheit besessen zu sein, ist nicht gesund“ sagt eine Mutter, „Eine zu haben, wäre schön“ sagt eine Tochter.

Regisseur Hakan Savaş Mikan lädt die Gespräche auf der großen Videoleinwand hinter dem Ensemble mit Landschaftspanoramen auf: Autobahn mit Windrädern, seelenlose Neubausiedlung mit vierspurigen Zufahrten, Autobahnraststätten. Eine kalte Welt. Zudem sind auf der weiten Bühne im Werkraum des Thalia-Theaters Stühle, Hocker, Tische aufgestapelt wie vor einem Umzug, ein Bild für die Heimatlosigkeit der Figuren.

Wären da nicht gelegentliche musikalische Einwürfe, der Abend ginge mit seinem braven Abarbeiten am literarischem Material etwas emotionslos dahin. Auch bleiben viele der Lebensfäden nur unverbundene Erinnerungsfetzen. Vor allem aber gelingt nicht, das Leiden der Töchter im Westen aus dem früheren Leiden der Mütter im Osten zu erklären, also genau jenes attraktive Versprechen einzulösen, das diese Literatur macht: Seelenlandschaften über Generationen hinweg als Spiegel der großen historischen Umwälzungen zu beschreiben. Sasha Marianna Salzmann breitet Fragmente aus, bietet Material und Bilder auf und bleibt auch am Ende bei den unbeantworteten Fragen der Töchter an die Mütter.

„Ich habe Wochen und Monate damit verbracht, nachzulesen, welche Erschütterung das gewesen sein muss. Ich habe mir Filme angeschaut, selbstgedrehte Videos, alles, was ich kriegen konnte, um zu begreifen, was ihnen alles passiert sein könnte und in welches Paralleluniversum sie die Zentrifugalkraft der Geschichte hinausgeschleudert hat.“

Salzmann hatte eine ganze Reihe von Interviews geführt mit Freundinnen ihrer Mutter, ohne zunächst ein literarisches Projekt im Blick zu haben. „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist als Roman immerhin eine reiche Motivsammlung; auf dem Theater ist das eine eher lineare und einförmige Nacherzählung.