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Gastspiele beim 76. Festival in Avignon
Kraftmeiertheater mit Großmaulbelehrung
von Eberhard Spreng

Avignon ist auch ein großer Markt für Programmmacher aus dem In- und Ausland. Internationale Gastspiele stehen im Fokus wie die chinesische Produktion „Le septième Jour“ in der Regie von Meng Jinghui nach dem Roman von Yu Hua und „Una Imagen interior“ der Performancegruppe „El Conde de Torrefiel“.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 21.07.2022 → Beitrag hören

Foto: Christophe Raynaud de Lage

„Es ist 9 Uhr. Ich gehe zum Krematorium, meine Einäscherung ist für 9 Uhr 30 angesetzt“. Diese verstörenden Worte sind zu Beginn der Aufführung im Karmeliterkloster der Übertitelung zu entnehmen. „Le septième jour“ ist ein groteskes Sittenbild der chinesischen Gesellschaft aus der Sicht eines Protagonisten, der im Limboland zwischen Leben und Tod sieben Tage lang ebenfalls toten Menschen aus seiner Vergangenheit noch einmal begegnet. Eine Armada von Skeletten hängt in Kleiderständern auf der Hinterbühne im Kreuzgang des ehemaligen Klosters. Links haben sich zwei Techniker mit finsteren Sonnenbrillen hinter Computern verschanzt, vor ihnen sitzt ein weiterer Musiker mit Totenmaske. Ihr Klangwerk verkündet unheilvolles. Menschen in weißen Overalls desinfizieren die weite Bühne, weißer Dampf faucht aus den Bühnennebelmaschinen. Meng Jinghui gilt in China als Avant-Gardist, seine Regiesprache hat etwas kraftmeierndes, barock-dadaistisches.

Grelle szenische Zeichen, die an den frühen Castorf erinnern reihen sich aneinander, während man von Verwicklungen des Protagonisten Yang Fei in Affären der Mächtigen erfährt, die zu seinem Selbstmord geführt haben sollen. Seine Ex-Frau tritt auf, auch der Vater. Immer wieder dringen in das private Gefüge des schon mit 41 Jahren Verstorbenen Berichte aus der chinesischen Wirklichkeit. Von Babyleichen ist die Rede, die im Wasser eines Flusses aufgefunden worden seien. Einige sollen Patientenarmbänder an den Handgelenken getragen haben, ein Beweis dafür, dass sie hospitalisiert waren, ihre Eltern aber nicht die erforderlichen Mittel für die Krankenhausbehandlung hätten aufbringen können. Andere seien Opfer der chinesischen Familienplanung und Zwei-Kind-Politik. Der makabre und beißend satirische Ton des Romans verwandelt sich in Meng Jinghuis Inszenierung in einen forcierten Expressionismus, einen chinesischen Sturm und Drang. Die Ars Moriendi des Yang Fei, die siebentägige Passage vom Leben zum Tod beginnt mit Aufruhr und endet mit der Inbetriebnahme eines altmodischen Schredders: Alles wird zu Staub.

Foto: Christophe Raynaud de Lage

Wie Vergangenes, sowie Phantasie und Imagination in unseren Begriff von der Wirklichkeit einwirken, interessiert auch die spanische Performancegruppe „El Conde de Torrefiel“ , die in Avignon, nach dem Flop ihrer in Wien vor wenigen Wochen noch unfertigen Uraufführung gastiert. „Una imagen interior“ misstraut zutiefst dem Wirklichkeitsbegriff des digitalen Zeitalters und sucht in imaginativen Urgründen der Menschheitsgeschichte nach einem Jungbrunnen für unsere Phantasietätigkeit, die von vorgestanzten Bildern überwältigt wird. Eine riesige Malerei mit bunter, an Jackson Pollock erinnerne Dripping Technik hängt über der Bühne. Eine Dame betritt den Raum, den uns eine Textübertitelung als ein Museum vorstellt. Es handele sich, so ist zu lesen, um die Reproduktion einer 36 Tausend Jahre alten Höhlenmalerei, die jüngst per Zufall aufgefunden worden sei.

Sprache ist wieder einmal Leitmedium

Ein wummernder Soundtrack will das Rauschen der Geschichte illustrieren, während der Text in einem fort alles wiederholt, was das Auge schon wahrgenommen hat. Die Übertitelung beschreibt detailliert Kleidung und Akzessoires der auftretenden Museumsbesucher, wiederholt also auf sprachlicher Ebene die physische Wirklichkeit auf der Bühne. Diese kunstwollende Redundanz hat nun aber für alles Folgende die fatale Konsequenz, dass die alles erklärende, jeden Sinn stiftende Sprache die fragile Bildwelt in unseren Gehirnen auch in dieser Performance wieder in den Schatten stellt. Alles eckige, wie Kinos, Smartphones und andere Bildschirmgeräte beherrschten unsere Imagination, sagt zum Beispiel der neunmalkluge Text. Die Aufführung, die doch unsere inneren Bilder befreien wollte aus den Gefängnissen der Konzepte und digitalen Strategien, kommt mit der strengen Zuchtmeisterin Pädagogik daher. Derweil stehen Performerinnen und Performer in zeremoniellen Gruppenkonstellationen vor riesigen Plastikplanen, die das Licht in den verschiedenen Grundfarben aufleuchten lassen. In einer sehr leeren Supermarktszene heult ein Martinshorn auf, nachdem ein Kunde ein einziges aus dem Schnürboden herabgelassenes Objekt berührt. Achtung: Wenn das bildwunde Gehirn die Hand nach der Ware ausstrecken lässt, ist der Zivilisationsgau schon im Gange. Auch mit „El Conde de Torrefiel“ ist das Festival in Avignon wieder in die Falle eines simplen Kulturpessimismus’ geraten, wie er vielleicht noch in den Nullerjahren angegangen wäre, heute aber deutlich unterkomplex daherkommt. Auch manche andere Arbeit sieht den wahren Menschen im falschen Digitalen untergehen. Und all das hinterlässt nach einem viel versprechenden Start zum Ende der zweiten Festivalwoche einen etwas schalen, moralinsauren Nachgeschmack.