Novarina-Rodrigues-und-Niangouna-mit-neuen-Arbeiten-in-Paris

Theater in Paris
Sprachfiguren
Von Eberhard Spreng

Wie entsteht eine Figur im Theater? Wie wird sie zur Legende? Wie wird aus Sprache Verkörperung? Drei divergierenden Autoren- und Regiehandschriften geben Antwort: Valère Novarina mit „L’animial imaginaire“; Tiago Rodrigues mit „The way she dies“ und Dieudonné Niangouna mit „Trust/Shakespeare/Alléluia“.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 24.09.2019 → Beitrag hören

Valère Novarinas Gemälde mit einem Teil des Ensembles
Foto: Pascal Victor

Aufmarsch der Minderheiten: In kurzen Sketchen stellen sie sich auf der Vorderbühne mit dem Blick ins Publikum vor: Sie nennen sich „Écarniciens“ oder „Néantistes mordorés“ oder „Énervés de Firminy“ und die gibt es im wirklichen Leben natürlich nicht. Valère Novarina entwirft auf der Bühne des Théâtre National de la Colline in seinem neuen Stück  „L’animal imaginaire“ eine Welt der Sprachgeschöpfe. Nur deren Charakterzüge erinnern entfernt an Menschen des wirklichen Lebens. Einer ist gar ein „rienindividu“, ein „Nichtividuum“. Novarinas Text ist ein Feuerwerk der Wortschöpfungen und alle deuten auf eine zentrale Frage: Wie hängt das Leben der Menschen mit der Sprache zusammen. Für kurze, flott kabarettistische und bisweilen musikalische Auftritte kommen seine Akteure hinter zwei großen Gemälden hervor, die Autor Novarina selbst malte und deren farbfreudige Abstraktion entfernt an die Neuen Wilden erinnern.
„ Je croyais vivre dans un
 ‘ôte-monde’
Juqu’à  songer emplir ma tombe
De  lilas blancs “
Novarinas Stück  ist ein philosophisches Kabarett, ein absurdes Welttheater in einer Parallelwelt der Worte, in Neologismen, Verballhornungen und Buchstabenverdrehern. Über allem und trotz der heiteren Komik der Aufführung liegt ein Daseinsschmerz, der mit der Sprache eng verbunden ist. Denn der Mensch ist einerseits ein Kind der Sprache, aus der ein göttlicher Rest nie verschwindet, und andererseits ein Kind der Materie, zur gleichen Zeit also unsterblich und vergänglich. Da ist Raum für den Streit der Positionen: „Meine Damen und Herren! Die Sprache ist in Wirklichkeit ein Hormon, eine chemische Substanz. Wenn Gott uns die überlassen hat, dann nur, damit wir untereinander unser tierisches Verhalten besser regeln können.“ Mal Lachen, oft Schmunzeln im Publikum: So komisch und unterhaltend wie beim Maler, Autor und Regisseur Novarina ist Philosophie nirgendwo im Theater.

Tiago Rodrigues setzt Literaturerforschung fort

Der Portugiesische Theaterchef und Regisseur Tiago Rodrigues erforscht die Fähigkeit der Sprache, Gefühle wiederzugeben. Anhand von Tolstois „Anna Karenina“ sucht er mit einem vierköpfigen Ensemble nach der heutigen Entsprechung für das tragische Liebes-Erleben der russischen Romanfigur. Können wir nacherleben, was Tolstois Figuren zustieß? Können unsere westeuropäischen Sprachen fassen, was Tolstois Russisch vermochte? Rodriges, dem sensiblen Erkunder literarischer Gefühlswelten, geht es in kurz skizzierten Szenen in der flämisch-, französisch-, und portugiesischsprachigen Aufführung nicht um die Bedeutungs- sondern um die Gefühlsgenauigkeit der Übertragungen. „The way she died“, ein kleiner, intensiver Abend im Programm des Pariser Herbstfestivals.

Dieudonné Niangouna entwirft gewaltiges Shakespeare-Panorama

Wie sich Figuren mithilfe der Sprache erfinden, wie sie ihre Selbstermächtigung betreiben, das hat der kongolesische Autor und Regisseur Dieudonné Niangouna immer wieder vorgeführt. Mit “Trust/Shakespeare/Alléluia” eröffnet er die Saison am MC Bobigny in der Pariser Banlieue. Er überträgt in einer Reihe von zumeist monologischen Texten legendäre Shakespeare Figuren in eine zeitgenössische Psychologie. Den Penner in der U-Bahn, als der Shakespeares König Lear in Erscheinung tritt, spielt der furiose, afrikanische Regisseur ausnahmsweise selbst.

Dieudonné Niangouna spielt den König Lear
Bluefacing. Dieudonné Niangouna spielt König Lear. (Foto: Raymon de Lage)

Merkwürdig blass bleiben ansonsten, im ersten Teil dieses Shakespeare-Potpourris aus chorischen Ensembleszenen und in sie eingebetteten Soli, die jungen Schauspieler im multiethnischen Ensemble. Dann haben Frauenfiguren das Wort.  Und nun werden Niangounas rasante Monologe wieder Beispiele einer Sprache, in der sich eine heroische Revolte gegen die herrschenden Verhältnisse ausdrückt. Und doch: Viele Motive in der vierstündigen Aufführung bleiben unverbunden, bleiben Materialsammlung, Fußnoten zu Mythos und Legende des Shakespear‘schen Figurenuniversums. Zum Saisonstart in Paris kann man die Sprache in all ihren Theaterzuständen erleben: Als Rhetorik, als Vehikel der Gefühle und als Urkraft, die der menschlichen Existenz vorausgeht. Aber allen gemein ist der Umstand, dass diese Theatersprache nie pures Material ist, sondern immer ein Ausdruck von Figuren und der Kern ihrer Existenz.